London Modern Vintage

 

100_014A0248

Beigel Bake (2016)

 

43_014A0227

Shoreditch Bycicle (2016)

 

London Modern Vintage

Moonlight Orange (2016)

 

London Modern Vintage

Oxford Station (2016)

Creating a new style ...

Wir kamen von Schottland zurück und wollten auf dem Weg nach Hause noch ein paar Tage London anschauen. Fotografieren wollte ich nach drei Wochen nicht mehr: Edinburgh, Glasgow, die Highlands, die Foto-Chips waren voll und ich müde …

Das Hotel lag direkt an der Stamford Bridge, neben dem Stadion von Chelsea London. Gott sei Dank keine Fußball-Spiele während der nächsten vier Tage, wo wir der Hauptstadt Englands einen ersten Besuch abstatteten.

Du steigst die Treppen der U-Bahn-Haltestelle Tower Bridge hoch und bist überwältigt von der Skyline. Kein Vergleich vermag das auszudrücken, was man mit dem Auge sieht. Selbst die Kamera kann nur vage die Wucht des Eindrucks wiedergeben, mit der die Formen und Farben in dich dringen wie das Rauschen einer Droge; es fehlt das Singen und Tanzen, das Stocken und Fließen, das Lärmen und Schweigen, das nicht in digitale Pixels zu fassen ist.

London ist hipp, London ist Pop, London ist ein leicht dahingeworfener Anachronismus aus alter und neuer Architektur, aus hohen Türmen und niedrigen Reihenhäusern, aus rotem Backstein und spiegelndem Glas. Scheinbar wild zusammengewürfelt - jedoch in einer Eleganz, die wie jede Perfektion hartes künstlerisches Ringen war.  In den Straßen ein kreatives Durcheinander von Menschen und Kulturen aus allen Teilen der Welt.

London hat die besten Architekten, besten Designer, besten Musiker, besten Kreativen, das spürt man an jeder Ecke. Ich schneide mir senkrechte Fransen in die Jeans, kaufe mir  in der Carnaby Street ein paar ausgefallene, mit schwarz-weißen Ornamenten verzierten Sneakers, um wenigstens äußerlich ein Teil dieser kreativen Freaks zu sein ...

Lying in my bedroom …

Am nächsten Abend liege ich im Hotel auf dem Bett, auf dem Bauch meine Digitalkamera, eine Canon EOS 5D Mark III. Ich spiele an den Knöpfen rum. Mal hier, mal da. Wie ein Amateur, der noch nicht alles kennt. Im Kopf leuchten die Bilder vom Tag. London hat in nur wenigen Stunden und Sekunden, in denen ich hier bin, mein Herz: erobert.

Dämmerbeleuchtung, ich drücke auf den Auflöser, auf dem dunklen Bild, total unterbelichtet, kaum zu erkennen: Ein senffarbener Vorhang, graue Tapeten, verschwommener Stuck, schief im Bildrahmen …

Ich drehe den ISO-Regler hoch. Wenn sich die Kamera in manuellen Modus befindet, Blende und Zeit fest eingestellt sind, ist dies die einzige noch verbleibende Möglichkeit, die Belichtung zu steuern. Bei den alten analogen Kameras hätte man jetzt den Film wechseln müssen, dank digitaler Technik reicht ein Knopfdruck …

My brain is walking around in alpha mode …

Es gibt Zeiten, da geht mein Gehirn mit sich alleine und seinen Neuronen spazieren. Morgens nach dem Aufwachen und abends vor dem Einschlafen. Scheinbar Sinnloses wird da von hinten in die Augen projiziert, keine Rechtfertigung vor niemandem, nichts als freie Assoziationen und traumentrückte Bilder. Verrückter Tobak, voll trauriger Freude und sprudelnder Melancholie.

Der ISO-Wert erhöht die Empfindlichkeit des Sensors in der Kamera. Mit ihm verstärkt sich aber auch das Rauschen der Bilder. Der normale Wert ist ISO 100. Absolut scharfe Bilder, wenn der Fokus stimmt. Bei ISO 6.400 fängt das Bild an sichtbar zu rauschen. Ein fotografischer Fehler. Unscharf und verpixelt, trotz richtiger Scharfstellung.

Schrecklich.

Schreckliche Schönheit.

The English connection …

Ein kühner Gedanke springt mir unversehens wie ein hüpfender Ball vor die Füße. Ohne im ersten Moment einen Sinn zu erkennen, drehe ich den Regler auf ISO 102.400, die Grenze der Kamera. Warum? Was soll das? Das Bild ist komplett überbelichtet. Ich drehe die Blende hoch und die Zeit runter, damit die Belichtung wieder stimmt.

Die Tapeten, die Vorhänge, das Bild an der Wand haben einen Vintage-Effekt, der unbeschreiblich ist. Wie eine vergilbte Postkarte aus dem Jahre 1880.

Mein Gehirn geht durch geschlossene Türen, überspringt Räume und Zeiten, der Spieltrieb ersetzt die einfallslose Vernunft. Homo ludens versetzt The Shard, dieses postmoderne Prisma,  zurück ins 19. Jahrhundert. Indem der Spieler den ISO-Wert auf völlig verrückte Werte hochdreht. Jimi, du hast wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank.

Am nächsten Tag – ich habe ganze 3 Stunden zu freien Verfügung – mache ich einige Test-Shots. Draußen, im vollen Tageslicht, muss ich mit einen sehr starken Graufilter vor das Objektiv setzen, da selbst bei 1/8000 Sekunde und Blende 22, den Grenzeinstellungen von Kamera und Objektiv, noch zu viel Licht auf den übersensiblen Sensor fällt. Er ist mit ISO 102.400 so empfindlich wie ein Mann beim Putzen der Chromfelgen seines Autos.

Eigentlich ist das völliger Mumpitz, was ich da mache, total paradoxe Einstellungen der Kamera. Es ist, als würde man barfuß in Skistiefel steigen. Aber der Effekt, The Shard und die Tower-Bridge gemeinsam zurück ins Jahr 1880 zu versetzen, klappt erschreckend realistisch.

Coming back …

Keine vier Wochen später komme ich zurück nach London. Mich lässt die selbst entdeckte Vintage-Technik nicht mehr ruhig schlafen. Manchmal bin ich wie ein kleines Kind. Voll Neugier und Tatendrang, das nicht an die Konsequenzen denkt. Klar könnte man die Technik jetzt auch bei anderen Motiven ausprobieren. Aber die Kulisse Londons eignet sich hervorragend, um Alt und Neu imposant in Szene zu setzen. Alt und Neu liegen hier nur ein Steinwurf weit entfernt, nicht mal 50 mm Brennweite. Das Neue alt aussehen lassen, und dem Alten einen neuen Blick hinzufügen. Das ist das Thema, das ich mir in den Kopf gesetzt habe und nun stur verfolge wie ein trotziges Kind.

Ein Passant, ein höflicher, älterer Engländer, spricht mich auf der London Bridge in edlem Oxford-Englisch an, was ich denn da machen würde mit dem Stativ, der riesen Kamera, den Filtern, dem Fernauslöser,  dem völlig überdimsensionierten Kram,  schließlich ließen sich doch bei diesem tollen Wetter mit blauem Himmel und strahlender Sonne auch mit einer einfachen Handy-Kamera schöne Bilder machen.

„I use new technique to produce old things“, sage ich.

„Oh, this is a very german approach!” erwidert er.

Oh, how I love it, this black english humour!

Ich schieße im Oktober 2015 fünf Tage lang 10 Stunden Fotos. Abends falle ich ins Bett, als wäre ich zu Fuß zum Everest gelaufen.

Die Aufnahmen sind harte Arbeit: Bei Tageslicht und einem ISO-Wert von über 100.000 muss ich einen sehr starken Graufilter verwenden. Manchmal muss ich einen Big Stopper und einen Little Stopper gleichzeitig nutzen (um 10 + 6 Belichtungsstufen abgedunkelt), weil ich die Belichtungszeit auf sehr lange 1/15 s einstelle, damit ich die laufenden Menschen vor der Kamera verschwimmen lassen kann.

Nur noch rund ein 50.000 Tausendstel Licht fällt von außen auf den Sensor. Eine total abgefahrene Kameraeinstellung. Manchmal funktioniert der Autofokus nicht, und ich muss den Fokus von Hand einstellen. Das ganze erfordert natürlich Stativ und Fernauslöser. Bei einigen Aufnahmen verwende ich zur weiteren Verfremdung noch orangene und rote Farbfilter.

Ich bin völlig im Flow. Viele Leute sprechen mich auf der Straße an und es entstehen interessante Gespräche. Manchmal kommen allerdings auch Polizisten auf mich zu und fragen, was ich da mache. Mein Equipment ist einfach zu auffällig, als dass ich nur als privater Smartphone-Knipser durchgehe. In Canary Wharf, dem alten Finanzdistrikt von London, werde ich von Sicherheitspersonal höflich, aber bestimmt darauf hingewiesen: „Private estate, no photos.“

Ich fülle vier Daten-Chips. Ungefähr 6.000 Bilder. Davon werden es nur etwa 30 in mein Portfolio schaffen. Für ein Motiv benötige ich rund 50 bis 100 Bilder und 2 bis 3 Stunden Zeit. Die Technik ist sehr aufwändig. Dann soll das Ganze noch als spontante Street-Photographie aussehen. Eine echte Herausforderung. Grenze für Mensch und Material.

Die Bilder sind zwar digital mit Lightroom entwickelt. Es wurden aber weder irgendwelche Plugins verwendet noch wurden sie mit Photoshop bearbeitet, um sie auf alt zu trimmen. Der Vintage-Effekt ensteht alleine durch das Rauschen des Kamera-Sensors.

Irre. Marvellous.

Walking through the Sixties …

Eines Nachmittags fahre ich mit Bahn und Bus raus zum Maryon Park. Die Kulisse des Films „Blow up“ von Michelangelo Antonioni von 1966. Der Park ist auch nach 50 Jahren praktisch unverändert: Der Tennisplatz, der Wiesengrund, die Treppen, alles wie damals. Ich atme tief durch. Ein Paar schiebt einen Kinderwagen den geschlungen Weg entlang. Als sie um die Kurve sind, bin ich alleine im Park.

Ich steige die Treppen hoch, dann bin ich dort: Die berühmte Stelle, wo der Fotograf Thomas zufällig einen Mord fotografiert. Wo ihn die große Unbekannte zur Rede stellt. Eine leichte Brise rauscht durch Bäume und Sträucher. Das Rauschen hat denselben Ton wie im Film. Die Bäume, die Farbe, das Gras mit den angrenzenden Büschen: alles wie damals. Ich bin nicht mehr in der Gegenwart. Ich stehe mittem im Filmset vor 50 Jahren.

Ich stelle mit meinem neu erfundenen Vintage-Effekt die Mordszene nach. Ich lege mich an der Stelle in den Park, wo auch die Leiche gelegen hat. Mit Selbstauslöser mache ich einige Shots. Das Gras ist im Schatten noch nass vom morgendlichen Tau. Ich löse aus. Es entstehen dieselben groben, verpixelten Bilder wie im Film, als Thomas im Studio seine Bilder vergrößert („blow up“). Die Bilder gleichen sich erschreckend. Erschreckend schön. Ich liebe diesen Effekt.

Ich bin verrückt.

Ich bin ein Kind.

Hopeless.



4 Responses to

  1. ralf & angelika sagt:

    20.November 2016 Hallo Herr Riegg Vielen Dank für die sehr angenehme Führung und Erklärung von heute. Es hat bei mir doch nachdenken über Ihre krativität hinterlassen.Ich würde gerne noch mal vorbeischauen – melde mich vorher. Der Aufbau der Grau-Filter würde mich sehr interessieren. schöne Grüße ralf rzepka gechingen

    • Jansen sagt:

      Vielen Dank für die ausführliche Führung durch die Ausstellung „London Modern Vintage“. Die hohen Kontraste und das Arbeiten mit dem Rauschen haben den Fotos eine ganz eigene künstlerische Note verliehen. Die Arrangements sind wirklich sehr interessant und ansprechend. Auch die Idee der Aufteilung und Darstellung der Fotos auf einzelnen Backsteinen und deren Anordnung geben der ganzen Ausstellung eine sehr dynamische Ausstrahlung. Die Ausstellung hat uns sehr gut gefallen und wir hoffen, dass das schöne alte Gebäude mit der Short Time Gallery nicht abgerissen wird.
      Ute Jansen aus Grafenau

  2. jimi sagt:

    Sehr gerne. Ich werde schauen, dass ich den Kamera-Aufbau vor Ort habe, dann lässt es sich leichter erklären.

  3. Vor ein paar Tagen schlenderte ich in der Ziegelstrasse Sindelfingen in Richtung Marktplatz und sah im Fenster das Schild „OPEN“ . Fotosuasstellung, das interessiert mich. Im ersten Moment war ich erstaunt über die Art der Fotos. Später habe ich mir die Methode erklären lassen – sehr interessant. Zum Jahresanfang war das für mich in diesem Moment eine schöne Einführung ins Neue Jahr. Die Fotografie hat mich auch und zwar von der Kindheit an gefangen genommen, aber zu einer semiprofessionalen Ausübung hat es nicht gereicht. Diese Art der Bilder ist deshalb bemerkenswert, weil sie im technisch Unmöglichen angesiedelt sind.

Schreibe einen Kommentar