People of Berlin

Van Gogh – Berlin – Kreuzberg – Oberbaumbrücke – 09/2018

Mit diesem Motiv kam mir die Idee zur Serie „People of Berlin“. Ich war abends in meinem Quartier in der Fabrik in der Schlesinger Straße angekommen und schnappte mir die Kamera und machte noch ein paar Schritte ums Viertel. Eigentlich wollte ich gar nicht fotografieren – oder hatte zumindest nichts Konkretes im Kopf. Dann sah ich diesen Maler auf der Oberbaumbrücke – und ich musste sofort an Van Gogh denken. Die Idee zur Serie „People of Berlin“ war plötzlich geboren: Besondere Menschen, denen ich zufällig begegne, mit ihren Geschichten in Bild und – wenn möglich – in kleinen Anekdoten darzustellen.

 

Jongleur – Berlin – Kreuzberg – Oberbaumbrücke – 09/2018

Kaum fünfzig Schritte weiter bot sich das nächste Motiv an. Dieser junge Mann jonglierte mitten auf dem Fußgängerüberweg. Immer wenn es grün war, nahm er seine Bälle und stellte sich vor oder mitten unter die Autos. Er nahm kein Geld, es mache ihm einfach Spaß, die Leute ein wenig zu unterhalten. Erst nach und nach kam mir der Gedanke, die besonderen Szenen und Menschen nicht nur zu fotografieren, sondern auch die (Lebens-)Geschichten hinter den Bildern zu erfragen.

 

Tim Brosig – Saxophon – Berlin – Friedrichshain – U-Bahn Warschauer Straße – 09/2018

Wenige Schritte weiter dann diese Szene. Der Saxophonist Tim Brosig und sein Kumpel an den Keys spielen auf dem Vorplatz der U-Bahnhaltestelle Warschauer Straße. Absolut cooler Sound an einem lauen Spätsommerabend. Nachdem ich einige Shots gemacht habe, gibt mir Tim seine Karte, einfach so, ohne was zu sagen. Aber die Botschaft ist klar: Melde dich. Ich habe Hunger und gehe weiter. Kurz vor dem Ende der Brücke, auf der Höhe des RAW-Geländes, steht eine Imbissbude.

 

Fridas Tochter – Berlin – Friedrichshain – Simon-Dach-Straße – 09/2018

Nach einer Currywurst mit Pommes geht es weiter, zuerst rechts, dann links in die nahe Simon-Dach-Straße, dem absoluten Kneipen-Hotspot von Friedrichshain. Dicht an dicht drängen sich hier auf beiden Seiten der Straße Restaurants und Bars mit Spezialitäten aus allen Herren Ländern. Fast bereue ich es, schon einen Snack eingenommen zu haben. Es ist ein lauer Sommerabend und die Tische auf dem Bürgersteig sind voll besetzt. Dazwischen sehe ich diese Szene. Die Besitzerin des Blumenladens sitzt da, in Gedanken versunken, der sehnsüchtige Blick scheint durch das Handy hindurchzugehen. Blumen leuchten in die Nacht der Straße hinein. Versteckt zwischen parkenden Autos drücke ich ab. Ich gehe auf sie zu, erkläre was ich mache. Erst ringt sie mit sich, dann gibt sie die Freigabe für den Shot und ich gebe ihr meine Karte. Hoffentlich meldet sie sich, um noch etwas mehr über sie und diese Szene zu erfahren.

 

Berlin - RAW - Photoautomat

Photoautomat – Berlin – Friedrichshain – RAW-Gelände – 09/2018

Ich streife durch das RAW-Gelände und sehe diesen einsamen Photoautomat. Die Straßenleuchten tauchen die Szene in eine gespenstische Atmosphäre. Lange warte ich, bis jemand sich in das Häuschen setzt – aber es kommt niemand. So beschließe ich, jemanden zu fragen. Einige Leute laufen vorbei, ich trau mich nicht. Dann fass ich mir ein Herz. Ich spreche um die Ecke im Restaurant Emma Pea eine junge Kellnerin an; doch sie kann nicht weg. Nebenan ist das Crack Bellmer, eine Bar in einem alten Backsteinhaus. Bis auf die Kellnerin und zwei Typen an der Bar ist niemand da. Ich brauche jemanden mit schwarzen Haaren und dunkler Jacke, damit er sich von dem weißen Innenraum des „Fotostudios“ abhebt. Einer von den großen Jungs entspricht diesem Muster. Ich spreche ihn an. Er ist sehr sympathisch und sofort einverstanden. Ich dirigiere ihn ins Häuschen und gebe Anweisungen. Er befolgt sie ohne zu murren. Überhaupt werde ich in den nächsten Tagen überrascht sein, wie offen und unkompliziert die Begegnungen mit den Menschen sein werden. Ich gebe ihm meine Karte, hoffentlich meldet er sich. Sein Kumpel fragt ihn, ob er jetzt in einem großen Magazin erscheinen würde.

 

Berlin - Club der Visionäre

Club der Visionäre – Berlin – Kreuzberg – Am Flutgraben – 09/2018

Das Charakteristische an der Serie People of Berlin, sowohl besondere Menschen als auch ihre kleinen Geschichten aufzunehmen, ist noch am Entstehen. Die Idee und das Praktische dazu muss erst noch reifen. Noch ist nicht alles perfekt, vielleicht wird es das auch niemals sein, weil jede einzelne dieser Situationen wirklich einmalig ist. Daher sind bei diesem Motiv, dem Club der Visionäre im Abendlicht, auch keine Menschen zu sehen, obwohl es dazu eine Person gibt, nämlich Kaspar, die ich „vergessen“ habe abzulichten. Als ich die Aufnahme mache, spricht mich ein junger Mann Mitte 30 an, ob ich Feuer hätte. Wir kommen ins Gespräch. Besser er kommt mit mir ins Gespräch. Er redet die nächsten zwei Stunden ununterbrochen auf mich ein. Über Hegel, Nietzsche, Schopenhauer, die Ausbeutung des Kapitalismus und das Sichergeben der Masse in die wirtschaftlichen Verhältnisse, was bedeutet, Jobs zu machen, worauf man keine Lust, nur um Geld zu verdienen. Wir gehen runter in den Club, wo ich leider nicht fotografieren darf, so dass ein Portrait wegfällt. Irgendwann nachts um halb zwei verliere ich ihn, ich gehe nach Hause, bin hundemüde. Am nächsten Tag ärgere ich mich, dass ich keine Aufnahme von ihm gemacht habe. Situationen und Begegnungen, das wird mir klar, sind eine sehr flüchtige Angelegenheit, so dass man ständig hell wach und aufmerksam sein muss. Besser ein Shot zu viel als zu wenig.

 

People of Berlin - East Side Gallery

East Side Gallery – Berlin – Friedrichshain- Am Flutgraben – 09/2018

Am nächsten Morgen laufe ich die East Side Gallery ab. Sie ist ein verbliebenes Mauerstück von etwa einem Kilometer Länge am rechten Spreeufer hinter der Oberbaumbrücke. Über 100 Künstler haben Dutzende von Gemälden an den Wänden angebracht haben. Das berühmteste ist der Bruderkuss von Breschnew und Honecker des russischen Künstlers Dmtri Wrubel. Es ist ständig umringt von Touristen. Hier eine asiatische Gruppe, deren Mitglieder sich nach und nach an die Wand stellen und gegenseitig fotografieren. Der Blick des Touristen ist so fest entschlossen wie der Kuss der Protagonisten.

 

People of Berlin - Free West Sahara

Free West Sahara – Berlin – Potsdamer Platz – 09/2018

Am Potsdamer Platz höre ich – von der Leipziger Straße kommend – schon von weitem die Rufe nach einer freien West Sahara. Rund ein Dutzend Frauen und ein paar Kinder schwenken die Fahne der DARS (Demokratische Arabische Republik Sahara), ein von der Befreiungsbewegung Polisario ausgerufenen Staat in der ehemaligen spanischen Kolonie West Sahara. Diese ist nach dem Abzug der Spanier im Jahre 1976 von Marokko besetzt. Trotz eines durch die UNO vereinbarten Referendums verweigert Marokko bis heute, dies durchzuführen. Eine ältere Dame, die Mitglied des Bremer Vereins Freiheit für Westsahara e.V. ist, dem auch viele deutsche Politiker aus den unterschiedlichsten Parteien angehören, erklärt mir die verzweifelte Lage der dort lebenden Sahauris, die in ihrem eigenen Land in engen Flüchtlingslagern leben müssen.

 

People of Berlin - Gropiuspassagen

Pokémon – Berlin – Gropius-Passagen – Neukölln – 09/2018

Den Rest des Tages verbringe ich mit Fotografieren am Holocaust-Denkmal nahe dem Brandenburger Tor. Ich werde ermahnt, dass ich einige Genehmigung bräuchte, um hier zu fotografieren, obwohl ständig Handykameras der Touristen klicken, worum sich niemand schert. Am nächsten Tag – einem Samstag – mache ich mich auf nach Neukölln auf den Spuren nach Christiane F. An der Johannisthaler Chaussee steige ich aus der U-Bahn und trinke einen Cappuccino im Pavillion der Gropius-Passagen. Nichts ist versifft, keine Drogenhändler oder Prostituierten, die rumlungern, sondern kreuzbrave Jugendliche in H&M-Klamotten, die auf Ihren Handys in den virtuellen Parks zwischen den Hochhäusern von Gropiusstadt nach Pokemon-Gos jagen. Ich laufe runter zur Lipschitzallee 50, wo zu den Zeiten von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ das Haus der Mitte stand, jener berüchtigtem Szenetreff der abgehängten Kids der 70er Jahre. Das Haus ist mittlerweile abgerissen und musste einem Lidl-Einkaufscenter weichen.

 

People of Berlin - Lipschitzallee

Rollern – Berlin – Lipschitzallee – Neukölln – 09/2018

Das Subversivste, was ich in Gropiusstadt erlebe, sind zwei Roller-Fahrer, die einen leeren Brunnen als Halfpipe nutzen, um darin ihre Kunststückchen zu üben. Gropiusstadt ist sehr sauber, manche Hochhäuser erhielten sogar dezente farbige Anstriche. Ich fahre zurück nach Kreuzberg und steige am Hermannplatz aus der U-Bahn, um zum nahegelegenen Görlitz-Park zu laufen, der in den Stadtführern in höchsten Tönen gepriesen wird.

 

People of Berlin - Frank - Hermannplatz

Frank – Berlin – Kreuzberg – Hermannplatz – 09/2018

Vor dem Karstadt am Hermannplatz sitzt der Obdachlose Franz und bittet um kleine Spenden. Er wird im November 57 Jahre alt, ist Berliner und lebt seit 14 Jahren auf der Straße. Er hat Magenkrebs und will demnächst für immer nach Spanien ziehen, wo er ein paar Bekannte hat, bei denen er leben könnte. Wir er dort hinkommen soll, ist ihm noch schleierhaft. Da in seiner Schüssel lauter 1-Cent-Münzen liegen, gebe ich ihm ohne nachzudenken 20 Cent. Nach einer kurzen Pause, in der er die Münze in seiner Hand betrachtet, sagt er: „Das ist aber nicht sehr viel.“ Schnell wird mir klar, wie beschämend diese kleine Gabe ist und ich gebe ihm einen 5-Euro-Schein. Er freut sich riesig. Ich frage, ob ich ihn fotografieren darf. Er sagt zu, legt seinen Kopf sanft zur Seite und blickt mit großer Würde in die Kamera. Ich bin tief beeindruckt von dieser Zugewandtheit, die ich am wenigsten von einem Menschen hätte, der wahrscheinlich jeden Tag mit Abweisung und Verachtung zu kämpfen hat. Ich gebe ihm die Hand und bedanke mich für das Foto.

 

People of Berlin - Theresa

Theresa (Blowup) – Berlin – Kreuzberg – Görlitzpark – 09/2018

Vom Hermannplatz laufe ich in Richtung Görlitzpark. Auf der Sonnenallee vorbei an vielen türkischen Obstständen. Dann links in die Pannierstraße, schließlich in die Glogauer Straße zum Eingang des Parks. Plötzlich kommt mir von oben eine seltsame Gestalt entgegen. Je näher sie kommt, desto klarer wird sie. Die Gestalt heißt Theresa und schiebt einen Einkaufswagen vor sich her. Darin die Trommeln und Einzelteile eines Schlagzeugs. Ich frage kurz, wohin des Weges. Sie sei in Eile und ob ich denn nicht wüsste, dass heute das Comic-Festival in Kreuzberg beginne. Darf ich fotografieren? Ja gerne, und schnell muss sie weiter. Weiter geht es auch bei mir an aggressiven Schwarzafrikanern, die Drogen verkaufen wollen und mir ganz offen wegen der großen Kamera drohen, falls ich sie aufnehmen sollte. Selbst als ich an Ihnen schon weit vorbei bin, höre ich sie noch aus der Ferne weiter drohen. Eine massive, zwei Kilo schwere Kamera aus Magnesium mit einem stattlichen Objektiv aus Glas gibt mir eine gewisse Sicherheit, falls ich mich verteidigen müsste. Noch klüger wäre es in diesem Fall wahrscheinlich, einfach schnell davonzurennen.

 

People of Berlin - Dru

Dru – Berlin – Kreuzberg – Görlitzpark – 09/2018

Im Park eher entspannte Atmosphäre. Auf kleinen Steinmauern sitzen ein paar Hipster, Paare liegen im Gras und küssen sich. Dann höre ich einen langen ruhigen Ton, der von der Gegenseite kommt. Ich laufe den kleinen Berg runter und sehe, je näher ich komme, jemanden auf einem flachen Stein sitzen, der wieder und wieder eine Klangschale anstößt. In genügend großem Abstand, dass er mich nicht bemerkt, mache ich einige Aufnahmen. Schließlich laufe ich zu ihm hoch, frage, was er denn da mache und wie er heiße. Dru sei sein Name, er komme aus Los Angelos und lebe seit fünf Jahren in Berlin. Studiert habe er Kalligraphie, sein Geld verdiene er als DJ in diversen Berliner Clubs. Er mache gerade eine Klangtherapie. Er gibt mir die Klangschale und den Schlegel. Ich lege sie in die flache Hand und stoße an. Die schweren Schwingungen gehen durch den ganzen Körper und erzeugen ein leichtes Kribbeln.

 

People of Berlin

Meike Schmitz – Frauen und Kinder zuerst – Berlin – Prenzlauer Berg – 09/2018

Die letzte Station der ersten Serie führte mich abends an den Prenzlauer Berg. Gediegen. Sauber. Teuer. Miete für eine 80 qm Wohnung rund 1.600 Euro kalt. Ich laufe von der U-Bahn-Station Senefelder Straße die Kollwitzer Straße hoch. Breite Allee mit schönen renovierten mehrstöckigen Häusern aus der Gründerzeit. In der Ferne spielt Musik. Eine kleine Band jazzt ein wenig vor einem Klamottenladen namens „Frauen und Kinder zuerst.“ Man feiert gerade 10-jähriges Jubiläum. In der Pause spreche ich die Sängerin Meike Schmitz an. Sie erzählt, dass die einzelnen Mitglieder der Band sowie die Besitzerin des Ladens sich gut kennen würden und man deshalb auf die Idee mit der Session kam. Rund dreißig Leute sitzen im Kreis um den Laden. Ab und zu bleiben Passanten stehen und hören zu. Es ist der 22. September, 16:31 Uhr, 24 Grad. Ich bin müde.